Active Surveillance

Die Active Surveillance (diese aus dem Englischen stammende Bezeichnung wird auch im deutschen Sprachgebrauch überwiegend benutzt) ist keine tatsächliche Therapie, sondern eine Behandlungsstrategie. Ihr liegt die Erkenntnis zugrunde, dass bei vielen Männern zwar ein Prostatakrebs diagnostiziert wird, dieser aber zeitlebens keine Symptome verursachen wird und darum nicht behandlungs-, wohl aber beobachtungsbedürftig ist. Bisher wurden solche Männer durchweg einer “kurativen Therapie” unterzogen, d. h. operiert oder bestrahlt und damit übertherapiert mit lebenslangen Folgen. Allerdings ist nicht gewährleistet, dass ein zum Zeitpunkt der Diagnose insignifikantes, nicht behandlungsbedürftiges Prostatakarzinom diese günstige Eigenschaft bis zum Ableben des betreffenden Mannes aufgrund einer anderen Ursache beibehält. Eine ständige Kontrolle ist deshalb unerlässlich, daher der Begriff “aktive Überwachung”. Mit der “Interdisziplinären Leitlinie der Qualität S3 zur Früherkennung, Diagnose und Therapie der verschiedenen Stadien des Prostatakarzinoms” (“S3-Leitlinie “), die im September 2009 der Öffentlichkeit vorgestellt wurde und den aktuellen Stand der Schulmedizin zur Behandlung des Prostatakarzinoms darstellt, wurde erstmals in der Geschichte der deutschen Urologie aus dieser Erkenntnis eine Behandlungsstrategie definiert. Bis zum Erscheinen der Leitlinie galt der eherne Grundsatz, dass jedes Prostatakarzinom behandlungsbedürftig sei. Man geht dabei davon aus, dass ein Prostatakarzinom nicht zwingend sofort behandlungsbedürftig zu sein braucht, wenn die folgenden Parameter gegeben sind:

PSA-Wert ≤ 10 ng/ml;
Gleason-Score ≤ 6;T1c und T2a;
Tumor in ≤ 2 Stanzen;
≤ 50 % Tumor in einer Stanze.

Ferner heißt es in der Leitlinie:
“Patienten mit einem lokal begrenzten PCa, die für eine lokale kurative Behandlung in Frage kommen, sollen nicht nur über Behandlungsverfahren wie radikale Prostatektomie, Strahlentherapie und Brachytherapie, sondern auch über Active Surveillance (AS) informiert werden. Bei Patienten mit lokal begrenztem PCa, die für eine kurative Behandlung in Frage kommen, sollen die unerwünschten Wirkungen und Therapiefolgen von radikaler Prostatektomie, perkutaner Strahlentherapie und Brachytherapie gegen das Risiko einer nicht rechtzeitigen Behandlung im Falle einer Active-Surveillance-Strategie abgewogen werden. Der Tumor soll in den ersten beiden Jahren durch PSA-Bestimmung und digitale rektale Untersuchung (DRU) alle drei Monate kontrolliert werden. Bleibt der PSA-Wert stabil, ist sechsmonatlich zu untersuchen. Biopsien sollen alle 12 bis 18 Monate vorgenommen werden. Active Surveillance soll verlassen werden, wenn sich die PSA-Verdopplungszeit auf weniger als drei Jahre verkürzt oder sich der Malignitätsgrad auf einen Gleason-Score über 6 verschlechtert.

Es ist denkbar, dass dies noch nicht der Weisheit letzter Schluss ist und dass mit wachsender Erfahrung der Ärzteschaft mit der AS die oben aufgelisteten Kriterien noch modifiziert und/oder ergänzt werden.

Auch in USA hat man sich intensiv mit dem Thema Active Surveillance auseinandergesetzt. Dr. Duke K. Bahn vom Prostate Institute of America propagiert eine gegenüber der obenstehenden etwas abweichende und darüber hinaus erweiterte Liste von Kriterien, die für die Wahl der AS erfüllt sein sollten:
Gleason Score: ≤ 6, evtl. 7a (3 + 4);
PSA: ≤ 10 ng/ml (PSA-Dichte ? 0,15) *);
Tumorstadium: T1c – T2a; T2b beim Vorliegen einer Komorbidität;
Anzahl positiver Stanzproben: ≤ 1/3 aller Stanzproben einer Biopsie;
Tumorbefall der Stanzproben: < 50 %;
PSA-Verdoppelungszeit: > 2 Jahre, besser > 3 Jahre;
Neovascularität des Tumors im Farbdoppler-Ultraschall: 1+ oder darunter;
Tumorvolumen im Farbdoppler-Ultraschall: < 1 cm³;
PCA3-Test: < 35 (Tumorvolumen < 0,5 cm³);
Ploidiegrad: Diploid**).

Mit dem Ploidiegrad bezeichnet man die Anzahl der vollständigen Chromosomensätze in einer Zelle. Zu seiner Bestimmung ist eine spezielle Untersuchung, die DNA-Zytometrie, erforderlich.

Dr. Bahn ist Radiologe und Spezialist beim Einsatz des Farbdoppler-Ultraschalls in der Diagnostik des Prostatakrebses. In deutschen urologischen Praxen ist ein solches Gerät kaum vorhanden. Der PCA3-Test wird in Deutschland erst von zwei Labors angeboten, wird von den Krankenkassen nicht bezahlt und kostet etwa 350,- €. Das Bestimmen des Ploidiegrades aus Stanzproben ist zwar bekannt, wird aber kaum praktiziert, weil der Aussagewert dieser Diagnostik unklar ist.

Ob irgendwann doch eine aggressivere Behandlung (zumeist Prostatektomie oder Bestrahlung) mit “kurativer Intention” (dem Ziel, die Erkrankung definitv zu heilen) erforderlich wird, hängt somit von der weiteren Entwicklung der Erkrankung ab. Zumindest gewinnt der Patient Lebensjahre ohne eine Beeinträchtigung der Lebensqualität, wenn man von der seelischen Belastung durch das Bewusstsein absieht, an Krebs erkrankt zu sein und “nichts dagegen zu tun”.

In keiner der beiden Festlegungen ist übrigens etwas über eine untere oder obere Altersgrenze ausgesagt.

Nicht unbeachtet bleiben sollte, dass – wie schon oben angedeutet – das Praktizieren der Active Surveillance für den Betroffenen eine nicht unerhebliche nervliche Belastung darstellen kann (“der Krebs spielt sich im Kopf ab”). Männer, die bisher vom Prostatakrebs allenfalls das Wort kannten, sind häufig der Meinung, dass eine unbehandelte Krebserkrankung binnen kürzester Zeit zum Tode führen wird. Dies gilt tatsächlich für einige Krebsarten, aber nicht oder nur in ganz seltenen Fällen für den Prostatakrebs, der in vielen Fällen sehr langsam wächst, was mittels des Bestimmens der PSA-Verdoppelungszeit sehr gut kontrolliert werden kann. Diese Männer müssen sich erst an den Gedanken gewöhnen, zwar einen Krebs im Körper zu haben, aber nicht aggressiv gegen ihn vorgehen zu müssen.

Auf der anderen Seite kann das Fehlen der Behandlungsbedürftigkeit der Erkrankung den Betroffenen dazu verführen, die ständige regelmäßige Kontrolle per PSA-Wert-Bestimmung (laut Leitlinie alle drei Monate) zu vernachlässigen und dann den Zeitpunkt zu verpassen, ab dem die Erkrankung gar doch behandlungsbedürftig wird, eine Intervention in Form einer Operation oder Bestrahlung noch eine vollständige Heilung bewirken kann. Der Betroffene muss also unbedingt die erforderliche Selbstdisziplin wahren. Dies sollte ein geringer Preis sein für den Erhalt der vollen Lebensqualität. Es ist unbedingt ratsam, dass der Betroffene sich zum “empowered patient” macht, d. h. zum selbstbestimmten, über die vielen Facetten seiner Erkrankung sowie ihrer Diagnostik und Behandlung gut informierten Patienten. Ein Patient, der nicht gewillt ist, sich aktiv mit seiner Erkrankung auseinanderzusetzen, sollte von der Aktiven Überwachung wohl besser Abstand nehmen.

Die Active Surveillance darf nicht verwechselt werden mit dem Watchful Waiting, einer anderen Behandlungsstrategie für einen anderen Patientenkreis.

Quelle: http://www.prostatakrebs-bps.de