Künstliche Intelligenz erobert die Medizin

Arno Elmer und Präsident Oliver Hakenberg beim Parlamentarischen Abend der DGU. Foto: Schmitz

Bei ihrem Parlamentarischen Abend am 25.06.2019 in Berlin legte die Deutsche Gesellschaft für Urologie (DGU) in den Räumen der Parlamentarischen Gesellschaft das Augenmerk auf ein hochaktuelles und brisantes Thema: die Chancen und Grenzen kollaborativer Automatisierung und künstlicher Intelligenz (KI).
Der Unterschied zwischen diesen beiden Formen der maschinellen Unterstützung besteht darin, wie DGU-Generalsekretär Prof. Maurice Stephan Michel erklärte, wie selbstständig die Systeme arbeiten. Bei kooperativen Systemen wie dem DaVinci-Operationsroboter (Intuitive Surgical, USA) arbeiten Maschine und Arzt zusammen, sodass der Roboter eigentlich kein Roboter ist, sondern nur ein Mikromanipulationssystem. “Die Maschine macht keinen einzigen Schritt selbst”, betonte Michel. Diese “manual manipulation” steht ganz am Anfang einer Entwicklung, in der die Systeme zunehmend autonom arbeiten und schließlich sogar Krankheiten diagnostizieren können. Einen Schritt in diese Richtung geht bereits das AquaBeam-System (Procept Biorobotics) zur Therapie der Benignen Prostatahyperplasie (BPH): Hier wird das Gewebe nach Festlegung der zu behandelnden Region anhand der Echtzeit-Bildgebung durch den Arzt automatisch von einem Wasserstrahl abgetragen. Da die chirurgische Behandlung der BPH laut Michel gemeinsam mit der Therapie des Grauen Stars weltweit der häufigste operative Eingriff ist, erklärt sich das Interesse der Urologie an den neuen Techniken. Generell werden bis 2030 etwa je 20 Prozent mehr ambulante und stationäre Patienten in der Urologie erwartet, sodass hier ein großer Bedarf an effizienten Methoden besteht.
Unterstützung bei Diagnostik und Therapie
Die Künstliche Intelligenz (KI) kann hinsichtlich Diagnostik und Therapieempfehlung etwa bei Krebs bereits mit beachtlichen Leistungen aufwarten, wie Michel berichtete. So erreichte der Computer “Dr. Watson” von IBM 90 Prozent Übereinstimmung mit einem interdisziplinären Tumorboard. “Und wer weiß, ob sich bei den restlichen zehn Prozent nicht das Tumorboard geirrt hat?”, fragte Michel. Eine bedeutende Aufgabe für KI wäre es in der Tat, Hilfestellung für die Tumordiagnose und das weitere Vorgehen zu geben, etwa um zu entscheiden, ob eine Prostatabiospie sinnvoll ist. KI kann Michel zufolge schon jetzt Prostatakarzinome in Biopsien so gut erkennen wie ein Pathologe. Dies könnte bei einer zunehmenden Zahl von Präparaten bei gleich bleibender oder abnehmender Zahl versierter Pathologen eine bedeutende Unterstützung darstellen.
Eine weitere Herausforderung für die intelligenten Maschinen besteht darin, geschriebenen Text zu erkennen. Angesichts umfangreicher Ordner voller alter Arztberichte fragte Michel rhetorisch: “Wer kann das alles lesen, ohne etwas zu verpassen?” Hier könnte KI dem Arzt die Mühe abnehmen und ihm Zeit für die Patientenaufklärung freischaufeln. Michel zeigte sich überzeugt, dass die KI “nicht eliminierend, sondern unterstützend” eingesetzt werde. “Mir macht das keine Sorgen.”
Wenn Maschinen zu lernen lernen
Wohin die Reise weitergeht, schilderte anschließend Prof. Arno Elmer, Geschäftsführer der “Innovations Health Partners”, die verschiedene Digitalisierungsprojekte im Gesundheitswesen betreuen. Der Betriebswirt, Wirtschaftsinformatiker und Master of Laws im Bereich Gesundheitswissenschaften sprach in Berlin anstelle von Prof. Sami Haddadin vom Lehrstuhl für Robotik und Systemintelligenz an der TU München, der eigentlich über das Thema “Der Mensch ist Mittelpunkt der Maschinen von Morgen” referieren sollte. Elmer begann seinen Vortrag “Chancen und Potenziale der Vernetzung und Digitalisierung des deutschen Gesundheitswesens” mit einer Dystopie: In dem Film “Terminator 2 – Tag der Abrechnung” von James Cameron aus dem Jahr 1991 sei die entscheidende Frage gestellt worden, “zu welchem Zeitpunkt das System kippte: als die Maschinen lernten zu lernen”. Als die Menschen die Stecker ziehen wollten, fingen die Maschinen an, sich zu wehren. “Man sollte sich diese Stecker bewahren”, warnte Elmer. Denn längst wissen die Maschinen, wie man lernt. Um den Unterschied zwischen menschlichem und maschinellem Lernen zu illustrieren, führte der Digitalisierungsspezialist als Beispiel an, wie ein Kind und wie ein Computer lernt, ein Schloss zu öffnen: “Das Kind versucht es fünfmal, hat dann keine Lust mehr und macht am nächsten Tag weiter. Nach einem halben Jahr weiß es, wie man ein Schloss aufschließt. Der Computer schafft es in 30 Minuten. Jetzt drücken Sie ‘Enter’, und alle anderen Computer können es auch, und zwar in drei Minuten.” Bereits heute würden zum Beispiel Cyber-Angriffe aus Fernost nicht mehr von Menschen abgewehrt, sondern von intelligenten Programmen, die lernen, welche Maschen sich die digitalen Feinde einfallen lassen. “Wir reden nicht von morgen, es ist jetzt schon so weit”, so Elmer. Dennoch beruhigte er die Mediziner: “Bis der Operationssaal von Ärzten leergeräumt ist, wird es noch sehr lange dauern. Es wird aber massiv zunehmen, dass alles vernetzt wird.”
Rote Linien
Die ethische Dimension wurde beim Parlamentarischen Abend der DGU von Dr. Julia Inthorn von der Evangelischen Akademie Loccum beleuchtet. “KI ist menschengemacht”, betonte Inthorn, das heißt, Menschen geben ihr auch die notwendigen Regeln. Allgemeine Anforderungen an vertrauenswürdige KI sind Inthorn zufolge, dass das Recht, insbesondere die Grundrechte, befolgt werden, die Selbstbestimmung respektiert wird, Schaden vermieden, Gerechtigkeit und Nachvollziehbarkeit gesichert und Robustheit gewährleistet wird. Spezifische Anforderungen in der Medizin sind die Beachtung der Arzt-Patienten-Beziehung, die Verbesserung der Versorgungssituation mit Blick auf Ökonomie und Ressourcen und die Verteilung von Verantwortung. “Die roten Linien im Umgang mit der KI sind also die, die wir immer haben”, schloss Inthorn. Ob aber die Ethik tatsächlich den Handlungsrahmen setzt oder nur nachträglich zu erfassen versucht, was ihr längst davon galoppiert, blieb unklar.
Wo bleibt der Arzt?
Angesichts der zunehmenden Fähigkeiten der KI lag die Frage in der Luft, welche Stelle der Arzt noch einnimmt, wenn ihm von der Diagnose bis zur Therapie immer mehr abgenommen wird. Gibt es einen Teil in der ärztlichen Heilkunst, die eine noch so fortgeschrittene KI nicht ersetzen kann? An erster Stelle steht da natürlich der Kontakt zum Patienten, das Arztgespräch mit Aufklärung über Diagnose und Therapie und die Einschätzung der Befindlichkeit des Patienten, vielleicht auch eine besondere menschliche Intuition. DGU-Präsident Prof. Oliver Hakenberg zeigte sich nicht sicher, ob den Ärzten diese Domäne erhalten bleiben wird: “Ich glaube, dass KI irgendwann auch Emotionen erkennen kann.” Für Generalsekretär Michel ist zentral, dass der Arzt die medizinische Hoheit über die Verfahren behält: “Keiner wird erleben, dass hochkomplizierte Abläufe ohne Kontrolle stattfinden.” Demnach bleibt also der Mensch als Steuernder im Zentrum der KI-Prozesse, die sich nicht verselbstständigen dürfen. Bestimmte Juristen gehen schon so weit, Maschinen eigene Rechte zuzusprechen. Mit der Absage an solche Gedankenspiele streifte Michel schließlich das philosophische Urproblem von Körper und Seele: “Maschinen haben keine Seele und können deshalb auch keine Rechte haben.”
(ms)