Zweitmeinung: Im Zweifel für den Zweifel

Oft ist es für Patienten sinnvoll, den Rat eines zweiten Arztes einzuholen. Das könnte in Zukunft kompliziert und teuer werden.

Von Lara Malberger

  1. August 2016, 2:51 Uhr Editiert am 8. August 2016, 9:41 Uhr DIE ZEIT Nr. 31/2016, 21. Juli 2016

 

Drei von vier Patienten, die eine Zweitmeinung einholen, entscheiden sich gegen die Empfehlung des ersten Arztes. Das hat eine Studie ergeben. © Damir Sagolj/Reuters

Der Arzt sagt: Die Mandeln müssen raus. Oder: Wir müssen das Knie operieren. Der Patient denkt: Muss das wirklich sein? Wenn er sich gründlich informiert, stößt er auf Zahlen, die seine Zweifel nähren. In manchen Landkreisen Deutschlands werden achtmal so vielen Menschen die Mandeln entfernt wie in anderen. Ähnliche Lücken klaffen bei der Anzahl von Kaiserschnitten, Blinddarm-Operationen oder Eingriffen an der Prostata in unterschiedlichen Regionen. Die Differenzen lassen sich nicht allein mit unterschiedlichen Erkrankungszahlen erklären. Bei lukrativen Operationen liegt der Verdacht nahe, dass Ärzte den Eingriff vorschlagen, weil ihre Klinik daran verdient – und nicht, weil sie nach Abwägung von Nutzen und Risiko die beste Behandlungsoption empfehlen.

Vor diesem Hintergrund überrascht nicht, was eine Untersuchung der Bertelsmann Stiftung im April dieses Jahres ergab: Von insgesamt 1598 befragten Bürgern hatte jeder dritte schon einmal überlegt, eine Zweitmeinung zu einer ärztlichen Empfehlung einzuholen. Fast jeder vierte der Befragten hat es tatsächlich getan. Das sei das gute Recht der Patienten, sagt Ilona Köster-Steinebach vom Bundesverband der Verbraucherzentralen: “Wir haben Patienten immer darauf hingewiesen, dass sie mit dem Recht auf freie Arztwahl prinzipiell auch das Recht auf eine zweite Meinung haben.” Im Zweifel konnte also ein Patient einfach von sich aus einen anderen Arzt aufsuchen und nach dessen Einschätzung fragen, egal um welche Krankheit es ging.

Das könnte sich demnächst ändern. Im vergangenen Jahr trat das Versorgungsstärkungsgesetz in Kraft, es regelt das Recht auf eine zweite Meinung neu. Anspruch auf eine Zweitmeinung haben Patienten demnach nur bei planbaren Eingriffen, deren Fallzahlen in Deutschland auffällig steigen und bei denen nicht auszuschließen ist, dass finanzielle Motive hinter der ärztlichen Therapie-Empfehlung stecken. Der Fachausdruck dafür: “mengenanfällige Eingriffe”. Typische Beispiele sind Rückenoperationen, Spiegelungen des Kniegelenks oder Herzkatheter-Interventionen. Für welche Eingriffe der Anspruch genau gelten wird, steht noch nicht fest. An einem Kriterienkatalog feilt gerade der Gemeinsame Bundesausschuss, das Selbstverwaltungsgremium von Ärzten, Krankenkassen und Krankenhäusern. Sobald die Liste feststeht, muss jeder Arzt seine Patienten mindestens zehn Tage vor dem geplanten Eingriff über das Recht auf eine Zweitmeinung aufklären.

Die Verbraucherschützerin Köster-Steinebach ist skeptisch, ob die Ärzte dieser Verpflichtung ausreichend nachkommen werden: “Es ist nicht hilfreich, wenn ein Arzt am Ende des Gesprächs murmelt, dass der Patient übrigens eine zweite Meinung einholen könne, ohne ihm das richtig zu erklären.”

Der eigentliche Haken liegt aber woanders: Das Gesetz beschränkt sich auf die mengenanfälligen Eingriffe, vermutlich auch deshalb, weil sich damit viel Geld sparen lässt. Drei von vier Patienten, die eine Zweitmeinung eingeholt hatten, entschieden sich laut der Bertelsmann-Studie am Ende gegen die Empfehlung des ersten Arztes. Entsprechend könnte das Gesetz die Ausgaben für Rückenoperationen und ähnlich umstrittene Eingriffe deutlich senken, weil sich mehr Patienten gegen die OP und für eine günstigere Alternative entscheiden.

Zweitmeinung

Alternativen vom eigenen Arzt

Absolut richtig oder falsch ist eine Behandlungsempfehlung fast nie. Ein guter Mediziner schlägt dem Patienten daher nicht eine einzige Therapie vor, sondern informiert über verschiedene Möglichkeiten.

Tut der Arzt das nicht von sich aus, kann der Patient ihm manchmal durch Nachfragen noch Optionen entlocken: Was würde passieren, wenn ich den Eingriff ablehne und gar nichts unternehme? Gibt es schonende Alternativen? Was sind die Vor- und Nachteile der unterschiedlichen Optionen, wie sehen die möglichen Konsequenzen aus?

Doch Kranke haben auch bei anderen Therapien Beratungsbedarf. Krebs steht ganz oben auf der Liste der Leiden, bei denen Patienten der Rat eines weiteren Experten wichtig ist: Knapp 65 Prozent der Befragten fanden laut Bertelsmann-Umfrage eine Zweitmeinung zur Chemotherapie sinnvoll, etwa 60 Prozent wünschten sich eine solche zur Bestrahlung. Doch Krebserkrankungen sind bis auf Ausnahmen nicht mengenanfällig, könnten also vom Anspruch auf Zweitmeinung ausgeschlossen bleiben. Für eine zweite Meinung zu Herzkatheter-Eingriffen, Operationen der inneren Organe oder an Knochen und Gelenken sprach sich jeweils knapp die Hälfte der Befragten aus.

Max Geraedts ist Gesundheitsversorgungsforscher an der Universität Marburg und einer der Autoren der Studie. Er hält den Anspruch auf eine zweite Meinung und den ärztlichen Hinweis darauf nicht nur bei den mengenanfälligen, sondern bei allen lebensverändernden Therapien für sinnvoll. Geraedts findet es bedenklich, wenn das Gesetz neue Einschränkungen schafft – und Patienten Zweitmeinungen zu Erkrankungen, die nicht im Katalog stehen, künftig selbst zahlen müssen.

Theoretisch sind die Krankenkassen nämlich nicht verpflichtet, diese Kosten zu tragen. Weil sie im Wettbewerb miteinander stehen, werden sie es wohl in den meisten Fällen trotzdem tun. Einige bieten sogar eigene Zweitmeinungsprogramme an. Dennoch sollte sich ein Patient, der sich selbst den zweiten Arzt suchen möchte, vorher bei der Kasse erkundigen, ob er die Kosten erstattet bekommt. Als letzte und schlechteste Option bleibt, einfach einen zweiten Arzt zurate zu ziehen, ohne ihm zu sagen, dass man bereits bei einem Kollegen war. Dabei gehen nicht nur wichtige Befunde verloren, sondern auch der eigentliche Sinn der Zweitmeinung: dass alle Beteiligten, Ärzte wie Patienten, offen miteinander reden.

Corinna Schäfer vom Ärztlichen Zentrum für Qualität in der Medizin findet, es sollte vor schwerwiegenden Entscheidungen die Regel sein, einen zweiten Arzt zu fragen – und nicht die Ausnahme. Sogar dann, wenn der Patient gar nicht an Diagnose und Therapieempfehlung seines Arztes zweifelt. Die Zweitmeinung, sagt Schäfer, dürfe nicht länger als Ehrverletzung oder Angriff auf die Kompetenz des Arztes verstanden werden.

Arztsuche

Wo finde ich den Richtigen?

Wer dem eigenen Doktor vertraut, kann diesen im Zweifel einfach bitten, einen Kollegen für eine zweite Meinung zu empfehlen. Ist man bereits bei einem spezialisierten Facharzt in Behandlung, kann möglicherweise der Hausarzt weiterhelfen. Der weiß oft am besten, wie seine Patienten ticken und welche alternativen Behandlungsmöglichkeiten für sie infrage kommen. Nach dem Einholen der Zweitmeinung sollte der Patient am besten mit seinem ursprünglichen Arzt über die verschiedenen Behandlungsoptionen sprechen und gemeinsam mit ihm die Vor- und Nachteile abwägen.

Das sieht Holger Lawall genauso. Der Gefäßmediziner setzt sich im Vorstand der Gesellschaft für Angiologie dafür ein, dass Ärzte und Patienten öfter auf eine zweite Einschätzung zurückgreifen. “Manchmal kann ein Arzt so eine Entscheidung doch gar nicht alleine treffen”, sagt Lawall. Er rät seinen Patienten vor größeren Operationen grundsätzlich, einen Kollegen zurate zu ziehen. “Wenn Sie sich ein Auto kaufen, nehmen Sie doch auch nicht das erstbeste Angebot an”, sagt er. “Sie erkundigen sich, vergleichen Preise und Ausstattung. Warum sollten Sie sich diese Mühe nicht auch für den eigenen Körper machen?” Die meisten seiner Patienten sähen das auch so. Zweifel an seiner Kompetenz hätten sie danach nicht. Im Gegenteil: Viele kommen mit der zweiten Meinung zurück zu ihm. Dann kann Lawall gemeinsam mit den Patienten und dem zweiten Arzt über den besten Behandlungsweg sprechen.