Bislang keine Evidenz für ökonomische Einflüsse auf Behandlung und Qualität 

INTERVIEW DES MONATS MIT DR. SARA LÜCKMANN

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ZUR PERSON
Lückmann ist seit 2020 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Medizinische Epidemiologie, Biometrie und Informatik, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Zuvor arbeitete sie unter anderem am Institut für Epidemiologie, Sozialmedizin und Gesundheitssystemforschung, Medizinische Hochschule Hannover
Das Thema ihrer Promotion lautet: „Sozioökonomische Ungleichheiten im Versorgungsverlauf am Beispiel der koronaren Herzkrankheit – Ergebnisse einer systematischen Literaturrecherche und qualitativen Studie“

Viele Ärztinnen und Ärzte kritisieren die „Ökonomisierung“ der Medizin. Evidenz für ökonomische Einflüsse auf die Behandlung und Qualität gibt es bislang jedoch nicht, sagt die Wissenschaftlerin Dr. Sara Lückmann von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Sie erforscht jetzt in einem von der Deutschen Krebshilfe geförderten Projekt, ob Ärztinnen und Ärzte die Behandlung unter finanziellen Gesichtspunkten entscheiden und welche Rolle das Gesundheitssystem dabei spielt. Im „Interview des Monats“ erklärt sie, was die Schwierigkeiten dabei sind.

Mit Ihrem Projekt erforschen Sie das Spannungsfeld zwischen medizinisch-ethischen Anforderungen der Krebspatienten und -patientinnen und betriebswirtschaftlichen Zielen aufgrund der Vergütungsstruktur im Krankenhaus. Wie stellen Sie das genau an?
Wir schauen uns an, ob Ärztinnen und Ärzte die Behandlung unter finanziellen Gesichtspunkten entscheiden und welche Rolle das Gesundheitssystem dabei spielt. Da dies schwer nachzuweisen ist, gehen wir zum Großteil explorativ vor. In einem ersten Arbeitspaket analysieren wir die internationale Literatur zu ökonomischen Beeinflussungen mittels eines Reviews, um erste Anhaltspunkte zu finden, in welchen Kontexten bzw. Finanzierungssystemen Therapien ggf. durch finanzielle Anreize beeinflusst werden. In einem zweiten Arbeitspaket werden wir qualitative Interviews mit onkologisch tätigen Ärztinnen, Ärzten und Studierenden führen, um deren konkrete Erfahrungen und Sichtweisen auf das Spannungsfeld zu erhalten.

Was fragen Sie?
Wir wollen der Frage nachgehen, inwieweit finanziell beeinflusste Therapieentscheidung zu einer qualitativ schlechteren Versorgung führen oder ob die Entscheidungen der Ärztinnen und Ärzte „nur“ die Krankenkassen belasten. In einem dritten Arbeitspaket überprüfen wir anhand von Daten der konkret erfolgten Behandlungen, die bei den Krankenkassen und klinischen Krebsregister vorliegen, ob z.B. in zertifizierten Organkrebszentren durch die Therapiefindung in Tumorboards bei gleicher Krankheitsschwere allgemein seltener operative Therapien eingesetzt werden oder auch häufiger im 4. Quartal zur Erreichung der Mindestmengen für die Zertifizierung. Dank der finanziellen Förderung des Projektes durch die Deutsche Krebshilfe ist es uns möglich, die Problematik aus möglichst vielen verschiedenen Blickwinkeln zu beleuchten.

Was sind die größten Herausforderungen, wenn es darum geht, die ökonomischen Einflüsse auf Therapieentscheidungen zu erkunden?
Die größte Schwierigkeit ist, überhaupt eine ökonomische Beeinflussung zu belegen. Dies liegt daran, dass zum einen eine Berücksichtigung der Kosten bei Therapieentscheidungen politisch gewollt ist: Gemäß Sozialgesetzbuch V besagt das Wirtschaftlichkeitsgebot, dass Leistungen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten dürfen. Zum anderen gibt es nicht die eine richtige Therapie. Therapieentscheidungen beruhen auf einem Abwägen von medizinischen Vor- und Nachteilen vor dem Hintergrund bestehender Versorgungsleitlinien, im besten Falle unter Einbeziehung der Präferenzen der Patientinnen und Patienten. Inwieweit dann Ärztinnen und Ärzte bewusst oder unbewusst bei Aufklärungsgesprächen die asymmetrische Informationsverteilung nutzen, damit eine für das Krankenhaus finanziell bessere Behandlung durchgeführt wird, ist schwer zu zeigen. Auch in dem qualitativen Teilprojekt ist es eine wichtige Hürde, dass Ärztinnen und Ärzte offen dafür sind, sich diese möglichen Beeinflussungen überhaupt bewusst zu machen.

Wie gehen Sie damit um?
Wir befragen zusätzlich Studierende, die unbeeinflusst von Erlösfragen mit einem sehr am Patientenwohl orientierten Blick das Handeln im Krankenhaus beurteilen können. Zuletzt hilft auch die Forschung im interdisziplinären Team, diese Herausforderungen anzugehen. Daher bin ich sehr froh über die Unterstützung der weiteren Projektleiterinnen Prof. Wuppermann aus dem Bereich Medizin-Ethik-Recht, PD Dr. Al-Ali vom Krukenberg-Krebszentrum Halle und Dr. Hiemer vom Onkologischen Zentrum St. Georg in Leipzig sowie den erfahrenen Kooperationspartnern aus den Bereichen Onkologie, Ethik, Deutsche Krebsgesellschaft und WIG2.

Viele Ärzte beklagen seit Langem eine sogenannte Ökonomisierung der Medizin. Wie ist der generelle Forschungsstand dazu?
Bekannt ist natürlich der zunehmende finanzielle und wettbewerbliche Druck der Krankenhäuser. Eine wichtige Studie zur Ökonomisierung in der Medizin haben die Professoren Naegler und Wehkamp 2018 vorgelegt, in der die Sichtweisen von Krankenhausleitungen und Ärztinnen und Ärzte in Krankenhäusern qualitativ analysiert wurden.

Mit welchem Ergebnis?
Es zeigte sich, dass Geschäftsführende sich zwar auf die gesetzlichen Vorgaben berufen, nach denen kein direkter Einfluss auf ärztliche Entscheidungen genommen wird. Jedoch nahmen Ärztinnen und Ärzte sehr wohl einen wachsenden Druck wahr, bei patientenbezogenen Entscheidungen betriebswirtschaftliche Interessen zu berücksichtigen. Das Problem besteht bereits länger, da schon 2010 Braun und andere zeigten, dass bis zu 50 Prozent der Ärztinnen und Ärzte im Krankenhaus Überforderungen im Beruf auf starke Konflikte zwischen Kostendruck und Versorgungsqualität und/oder Berufsethos zurückführen. Abseits der subjektiven Wahrnehmungen gibt es aber aufgrund der genannten Probleme kaum belastbare Zahlen. Es gibt zwar Hinweise, dass die Abrechnung ökonomisch beeinflusst wird. Beispiele dafür gibt es in der Neonatologie, wo Reif und andere sowie Jürges und Köberlein Manipulationen des Geburtsgewichtes aufzeigten. Evidenz für ökonomische Einflüsse auf die Behandlung und Qualität gibt es bislang jedoch nicht.