Die Darm-Hirn-Achse: ein vielversprechendes Forschungsgebiet

Dr. Petra Kittner  Medizinische Nachrichten  04.05.2023

Sowohl der Darm als auch das Gehirn sind komplexe Organe, die eine Vielzahl von Funktionen erfüllen und einen entscheidenden Beitrag für die Funktionalität und Gesundheit des Menschen leisten. Beide Organe sind durch zelluläre Barrieren vom restlichen Körper isoliert und haben keine direkte anatomische Nachbarschaft. Die Darmaktivität wird zudem vom enterischen Nervensystem (ENS) reguliert, das weitgehend autonom und unabhängig vom ZNS funktioniert. Doch trotz dieser strikten anatomischen und funktionellen Trennung von GI-Trakt und ZNS deuten zahlreiche Studien auf vielfältige Verbindungen zwischen Darm und Gehirn hin. Die Organe stehen über verschiedene noch nicht vollständig erforschte Kommunikationswege im ständigen Dialog miteinander und beeinflussen wechselseitig nicht nur die Funktionalität, sondern auch mögliche Pathologien des jeweils anderen Organs. Aus den wachsenden Erkenntnissen über diese Zusammenhänge entstand der Begriff „Darm-Hirn-Achse“.

Die Darm-Hirn-Achse und das Mikrobiom

Das Mikrobiom des Darms setzt sich aus ca. 10 Billionen Mikroorganismen zusammen. Die meisten von ihnen sind Bakterien, die in einer symbiotischen Beziehung mit ihrem Wirt zusammenleben. Die Zusammensetzung des Mikrobioms unterscheidet sich von Mensch zu Mensch und lässt sich daher als eine Art „gastrointestinaler Fingerabdruck“ bezeichnen. Eine krankhaft verändertes Mikrobiom nennt man „Dysbiose“. Die Dysbiose wird mit einer Reihe von Erkrankungen oder Störungen in Verbindung gebracht. Neben gastrointestinalen Erkrankungen wie den chronisch entzündlichen Darmerkrankungen gehören dazu auch Erkrankungen und Störungen des ZNS und der Psyche, wie z.B. die Alzheimer-Demenz, Autismus oder Depressionen. Diese Korrelation beruht vermutlich auf der Rolle des Mikrobioms in der Darm-Hirn-Achse.

Zu den Aufgaben der darmbesiedelnden Bakterien zählt neben dem Schutz vor pathogenen Mikroorganismen und der Produktion von Vitaminen auch die Verstoffwechselung komplexer Polysaccharide und unverdaulicher Ballaststoffe. Im bakteriellen Genom sind anders als im menschlichen Genom eine Vielzahl von Enzymen kodiert, die lange Kohlenhydrate fermentieren können. Als Produkte der Fermentation entstehen unter anderem kurzkettige Fettsäuren („short chain fatty acids“, SCFAs), die anschließend die Darmbarriere durchdringen und in die Enterozyten des Darms aufgenommen werden, um diese mit Energie zu versorgen. Ein Teil der SCFAs gelangt jedoch ins Blut und einige davon überwinden wiederum die Blut-Hirn-Schranke. Doch SCFAs überwinden die Barrieren nicht nur, sondern regulieren auch deren Integrität. Eine verminderte Integrität und somit erhöhte Permeabilität der Darmbarriere und der Blut-Hirn-Schranke wird bei autistischen Patienten vermehrt festgestellt. Auch die Konzentrationen von verschiedenen SCFAs im Stuhl weicht bei autistischen Patienten oft von gesunden Patienten ab.

Im Gehirn bewirken die SCFAs eine Reihe von Effekten. So kann beispielsweise die Fettsäure Butyrat über epigenetische Modifikationen die Expression verschiedener Gene regulieren und damit die Bildung neuer Synapsen fördern. Zudem nehmen einige SCFAs Einfluss auf die Form und Aktivität der Mikroglia-Zellen und somit auf das hirneigene Immunsystem. SCFAs scheinen also eine wichtige Rolle für den bidirektionalen Zusammenhang zwischen der Ernährung und Darmfunktion sowie der Entwicklung und Funktion des ZNS zu spielen. Allerdings wurden die meisten Studien in diesem Bereich bei Tieren durchgeführt – ein möglicher Grund für diesen Umstand ist die beim Menschen oft verminderte Verträglichkeit gegenüber Ballaststoffen und faserreicher Ernährung.

Der Einfluss der Darmflora auf die Kommunikation zwischen Darm und ZNS ist jedoch nicht auf die SCFAs begrenzt. So stehen die Bakterien unter Verdacht, die Freisetzung von Neurotransmittern, insbesondere Serotonin, aus enteroendokrinen Zellen im Darm zu fördern oder regulieren. Serotonin gilt als einer der Faktoren, über die das Mikrobiom mit dem Auftreten von depressiven Symptomen und anderen psychischen Erkrankungen in Verbindung steht. Die genauen Mechanismen hierzu sind aber noch nicht vollständig erforscht und verstanden.

Die Darm-Hirn-Achse und das ENS: Der Darm als Eintrittspforte ins Gehirn?

Auch wenn das ENS weitgehend autonom und unabhängig vom ZNS arbeitet, besteht mit dem Vagusnerv dennoch eine anatomische Verbindung zum Hirnstamm und den vegetativen Zentren des ZNS. Viele Theorien besagen, dass diese anatomische Verbindung als möglicher Kommunikationsweg eine der Grundlagen der Darm-Hirn-Achse darstellt. So wird z.B. postuliert, dass auf diesem Wege ein retrograder Transport pathogener Substanzen vom Darm ins Gehirn ermöglicht wird.

Die „Braaksche Hypothese“ geht davon aus, dass dieser Mechanismus die Entstehung der Parkinson-Krankheit erklärt. Die Hypothese besagt, dass die Erkrankung durch einen neurotropen Erreger ausgelöst wird, der das Darmepithel durchdringt und sich anschließend über das ENS und den Vagusnerv seinen Weg ins ZNS bahnt, wo er nacheinander verschiedene Hirnregionen befällt. Unterstützt wird die Hypothese unter anderem von einer dänischen Kohortenstudie, in der Wissenschaftler alle Patienten, die sich in Dänemark in einem Zeitraum von 18 Jahren einer Vagotomie unterzogen hatten, mit einer Kontrollgruppe bezüglich des Auftretens von Parkinson verglichen und eine Verringerung des Parkinson-Risikos nach Durchtrennung des Vagus-Truncus feststellten. Bezüglich des zeitlichen Auftretens von Lewy-Körperchen, der histopathologischen Korrelate der Parkinson-Krankheit, entlang der postulierten Ausbreitungsstrecke, gibt es jedoch voneinander abweichende Ergebnisse. Es ist also weiterhin unklar, ob sich die pathogenen Ablagerungen vom Darm ins Gehirn oder vom Gehirn in den Darm ausbreiten oder ob die beiden Organe im Krankheitsprozess gar keinen Zusammenhang aufweisen und nur unabhängig voneinander betroffen sind.

Belegt ist hingegen die Tatsache, dass mit dem ENS und dem Vagusnerv nicht nur ein Kommunikationsweg, sondern auch ein potenzieller bidirektionaler Transportweg zwischen Darm und ZNS besteht. So ist z.B. der Transport der Prionen, die BSE (bovine spongiforme Enzephalopathie, „Rinderwahn“) auslösen, von der Darm-Mukosa über das ENS und das vegetative Nervensystem ins ZNS bei betroffenen Tieren nachgewiesen worden. Und während vielen bekannt sein dürfte, dass das Varizella-Zoster-Virus (VZV) in Rückenmarks- und kraniellen Ganglien persistiert und bei einer Reaktivierung zu Herpes Zoster führen kann, sollte der ebenfalls möglichen VZV-Invasion des ENS, die gastrointestinale Beschwerden hervorrufen kann, in Zukunft mehr Beachtung geschenkt werden.

Die Darm-Hirn-Achse und das Immunsystem: Neuroinflammation

Nicht nur das darmeigene Nervensystem, sondern auch sein Immunsystem spielt eine Rolle in der Kommunikation entlang der Darm-Hirn-Achse.  Übermäßige inflammatorische Prozesse in der Darm-Mukosa, ausgelöst z.B. durch Dysbiosen oder Infektionen, können sich negativ auf Gesundheit und Funktion des ZNS auswirken. Die freigesetzten pro-inflammatorischen Zytokine können Nervenenden aktivieren, die dann Informationen an das Gehirn übermitteln. Zudem können freigesetzte Substanzen über die Blutbahn das ZNS erreichen und dort über eine Aktivierung von Mikroglia zu neuroinflammatorischen Prozessen führen, die eine Zerstörung von Neuronen und Synapsen zur Folge haben können. Auch die Permeabilität der Blut-Hirn-Schranke kann durch die entzündlichen Botenstoffe aus dem Darm erhöht werden, was zu einer vermehrten Einwanderung peripherer Immunzellen ins ZNS beiträgt und die Neuroinflammation somit verstärkt. Die Effekte chronischer gastrointestinaler Inflammation auf das Gehirn wurden in einer Studie bestätigt, die bei Patienten mit Colitis ulcerosa und Morbus Crohn deutliche Veränderungen des Gehirns in bildgebenden Verfahren entdeckte.

Fazit: Ein vielversprechendes Forschungsgebiet

Aufgrund der Komplexität der Darm-Hirn-Achse und der damit verbundenen anatomischen und funktionellen Strukturen und Mechanismen sind die meisten Aspekte noch nicht annähernd vollständig erforscht und verstanden. Es wurden viele Zusammenhänge entdeckt, die jedoch noch nicht kausal gedeutet werden können. Die multidimensionale Verbindung beider Organe hat jedoch weitreichende Auswirkungen auf eine Reihe von gastroenterologischen, neurologischen und psychiatrischen Erkrankungen und deren Behandlungsansätze, weshalb es ein vielversprechendes Forschungsgebiet ist, das für viele Patienten relevant sein kann.