Prostatakrebs: Das zähe Ringen um ein Screening

Dtsch Arztebl 2024; 121(6): A-382 / B-340

Lenzen-Schulte, Martina

Seit Jahren fordern Fachvertreter der Urologie statt lediglich einer rektalen Tastuntersuchung ein strukturiertes, kassenfinanziertes Prostatakrebsscreening – wie es dies in anderen Ländern bereits gibt. Lässt sich das Verdikt, der Schaden eines PSA-basierten Screenings überwiege dessen Nutzen, noch halten?

Seit einigen Jahren steigt die Zahl der Prostatakarzinome, die bei ihrer Entdeckung bereits fortgeschritten sind, deutlich an (1). Während die Rate solcher Tumore in der Zeit von 2004 bis etwa 2010 stabil blieb oder zurückging, gab es in der Gruppe der 45–74 Jahre alten Männer von 2010–2018 eine Zunahme von 41 %, für die Männer jenseits der 75 war der Anstieg von 2011–2018 mit 43 % ähnlich hoch (2).

Die Zunahme fortgeschrittener Tumoren falle nicht unerwartet mit der Kritik und dem Rückgang des PSA-basierten Prostatakrebsscreenings zusammen, lautet eine Erklärung (3). Außerdem habe die verbesserte Diagnostik zur vermehrten Entdeckung solcher Tumore beigetragen. Seit Jahrzehnten übernehmen in Deutschland die gesetzlichen Krankenkassen lediglich die rektale Tastuntersuchung als einzige Screeningmaßnahme. Die ist indes zur Früherkennung von Prostatakrebs ungeeignet, was schon länger Konsens ist. Zuletzt wurde dies 2023 für jüngere Männer ab 45 oder 50 Jahren durch die deutsche PROBASE-Studie bestätigt, so das Deutsche Krebsforschungsinstitut (4).

Der Versuch, ein PSA-basiertes Screening in Deutschland zu implementieren, scheiterte zuletzt 2020. Seinerzeit lehnte der G-BA aufgrund des negativen IQWiG-Votums gegen die Kritik der medizinischen Fachgesellschaften eine Finanzierung durch die gesetzlichen Krankenkassen erneut ab, obwohl sich bereits damals der Anstieg der fortgeschrittenen Karzinome abzeichnete (5). Die Europäische Union empfahl 2022, die existierenden Krebsscreeningprogramme auch auf Prostatakarzinome auszudehnen (6). Das hatte jedoch hierzulande bisher keine Konsequenzen. Andere Länder – etwa Schweden – screenen längst mit ausgefeilten, PSA-basierten Programmen auf einen Tumor, der in Europa immerhin die dritthäufigste Todesursache des Mannes darstellt (7).

Vor Kurzem hat die Deutsche Gesellschaft für Urologie (DGU) erneut einen Vorstoß zur risikoangepassten Früherkennung gemacht (8). Die Redaktion hat Fachvertreter der Urologie, das IQWiG und Betroffene um eine Stellungnahme gebeten.

Dr. med. Martina Lenzen-Schulte

EINSCHÄTZUNG | Christian Stief

„Die Bestimmung des PSA-Wertes und seine adäquate Interpretation stellt 2024 die einfachste und kostengünstigste Option zum Screening des Prostatakarzinoms dar.“ Prof. Dr. med. Christian Stief, Urologische Klinik der LMU München. Foto: privat

„Die Bestimmung des PSA-Wertes und seine adäquate Interpretation stellt 2024 die einfachste und kostengünstigste Option zum Screening des Prostatakarzinoms dar.“

Die Bestimmung des PSA-Wertes und seine adäquate Interpretation stellt 2024 die einfachste und kostengünstigste Option zum Screening des Prostatakarzinoms dar. Wichtig ist, dass PSA primär kein Prostatakarzinommarker, sondern ein Organmarker ist. Bei Frauen beträgt das PSA „Null“, bei Männern mit Prostata hängt der PSA-Wert erst einmal von der Größe des Organs ab. Das bedeutet: um den PSA-Wert eines Individuums zu interpretieren, ist das Wissen um die Größe seiner Prostata unerlässlich. Diese Größenbestimmung erfolgt üblicherweise über den transvesikalen Ultraschall. Um den von der Prostatagröße induzierten PSA-Wert zu errechnen, gilt als Faustformel „Gewicht dividiert durch 20“. Als Beispiel: Messen Sie bei einem Patienten eine Prostatagröße von 30 ml, dann sollte der PSA-Wert maximal 1,5 betragen.

Des Weiteren wird der PSA-Wert durch eine Prostatitis und/oder ein Prostatakarzinom erhöht. Kann eine Prostatitis aufgrund fehlender Symptome weitgehend ausgeschlossen werden und ist der gewichtsadaptierte PSA-Wert („PSA density“, PSA-D; in unserem Beispiel PSA 1,5 : 30 ml = 0,05) immer noch zu hoch, so wird heute ein multiparametrisches MRT der Prostata durchgeführt. Zeigt sich hier ein suspekter Befund, wird dieser mittels perinealer Fusionsbiopsie in Lokalanästhesie weiter abgeklärt.

Das PSA-Screening sollte im 45 Lebensjahr beginnen, im Falle einer positiven Familienanamnese schon mit 40. Die nachfolgenden Untersuchungsabstände werden dann vom PSA-Wert, der PSA-D und den Risikofaktoren und möglichen Komorbiditäten definiert.

Noch kurz zur digito-rektalen Untersuchung (DRU) der Prostata: Es kann sein, dass die DRU im Screening nicht statistisch signifikant war. Aber umgekehrt ist es so, dass eine suspekte DRU hochsignifikant mit einen Prostatakarzinom vergesellschaftet ist. Aufgrund dessen und der Tatsache, dass die DRU kostengünstig durchzuführen ist, sollte sie derzeit noch nicht aufgegeben werden.

„Die Bestimmung des PSA-Wertes und seine adäquate Interpretation stellt 2024 die einfachste und kostengünstigste Option zum Screening des Prostatakarzinoms dar.“ Prof. Dr. med. Christian Stief, Urologische Klinik der LMU München. Foto: privat


EINSCHÄTZUNG | Ernst-Günther Carl
Von Ernst-Günther Carl, stellvertretender Vorsitzender des Bundesverband Prostatakrebsselbsthilfe e.V. (BPS).

„Seit 14 Jahren kämpft der BPS in den entscheidenden Gremien um die Anerkennung des risikoadaptierten PSA-Tests als kostenfreie Früherkennungsmaßnahme.“ Von Ernst-Günther Carl, stellvertretender Vorsitzender des Bundesverband Prostatakrebsselbsthilfe e.V. (BPS).

„Seit 14 Jahren kämpft der BPS in den entscheidenden Gremien um die Anerkennung des risikoadaptierten PSA-Tests als kostenfreie Früherkennungsmaßnahme.“
In Deutschland erkranken rund 68 000 Männer im Jahr an Prostatakrebs, etwa 15 000 sterben daran – aus unserer Sicht eine viel zu hohe Zahl. Der in der Regel langsam wachsende Prostatakrebs ist für ein Screening geradezu geschaffen, denn: je früher erkannt, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass er noch nicht gestreut hat und daher kurativ therapierbar ist. Dies ist mit Blick auf die Lebensqualität von betroffenen Männern (über)lebenswichtig, denn das Leben mit metastasiertem Prostatakrebs ist möglich, aber von starken Einschränkungen bestimmt. Dies muss und kann vermieden werden!
Allerdings ist es um die Früherkennung von Prostatakrebs im Frühjahr 2024 in Deutschland nicht gut bestellt. Derzeit ist lediglich die digital-rektale Untersuchung Kassenleistung. Die Bestimmung des PSA-Wertes wiederum ist nicht kassenfinanziert und muss selbst bezahlt werden. Seit 14 Jahren kämpft der BPS in den entscheidenden Gremien um die Anerkennung des risikoadaptierten PSA-Tests als kostenfreie Früherkennungsmaßnahme. Zuletzt hat sich im Dezember 2020 der G-BA gegen den kostenfreien PSA-Test ausgesprochen. Wer diesen wichtigen Test zur Prostatakrebsfrüherkennung möchte, soll ihn weiterhin selbst bezahlen. Daher nutzen viele Männer diese Früherkennungsmethode nicht. Die derzeitige Quote für Männer beim Prostatakrebs ist aktuell schlichtweg unterirdisch. Dabei muss Früherkennung für Männer kostenfrei, umfassend und barrierefrei sein – so wie es bei Brust- und Gebärmutterhalskrebs bereits der Fall ist.
Daher unterstützen wir den Vorschlag der DGU, nach ausführlicher Aufklärung einen validierten Algorithmus zum risikoadaptierten Screening des Prostatakarzinoms anzuwenden. Auch der Kostenvergleich spricht eindeutig für diese Form der Früherkennung – unabhängig von den Schmerzen und Lebensumständen eines Patienten im fortgeschrittenen Stadium. Mit diesem Algorithmus, der hoffentlich Bestandteil der S3-Leitlinie werden wird, lassen sich die derzeit noch unterschiedlichen Bewertungen des PSA-Wertes vereinheitlichen und bisher nicht erstattete bildgebende Verfahren in das Screening integrieren.
Mit Blick auf unsere Söhne und Enkel sollten wir dann diese letzte, große Aufgabe in Angriff nehmen und Männer – analog zur Vorsorge für die Frauen – von der sinnvollen und kostenlosen Früherkennung überzeugen.

EINSCHÄTZUNG | Stefan Sauerland

„In der Tat hat sich seit dem IQWiG-Bericht von 2020 die Datenlage weiterentwickelt. Vermutlich lohnt sich eine Neubewertung des Prostatakrebsscreenings – jetzt oder in naher Zukunft.“

Die Früherkennung von Prostatakrebs ist derzeit wieder voll in der Diskussion. 2022 hat der Europäische Rat empfohlen, schrittweise ein Screeningprogramm aufzubauen. Diskutiert wird dabei ein Screening mittels prostataspezifischem Antigen (PSA) und Magnetresonanztomografie (MRT), das zunächst pilotiert und evaluiert werden sollte. Gesundheitsminister Lauterbach erklärte 2023 in einem Interview, dass „die wissenschaftliche Grundlage für ein Prostatascreening […] überwältigend“ sei. In der Tat hat sich seit dem IQWiG-Bericht von 2020 die Datenlage weiterentwickelt. Vermutlich lohnt sich eine Neubewertung des Prostatakrebsscreenings – jetzt oder in naher Zukunft.

Unstrittig ist, dass das „klassische“, rein PSA-basierte Prostatakrebsscreening die krebsspezifische Mortalität geringfügig reduziert. Allerdings führt diese Form des Screenings zu vielen Überdiagnosen und Übertherapien, was schlimmstenfalls Impotenz und Inkontinenz verursacht. Für eine positive Nutzen-Schaden-Abwägung braucht es eine andere Screeningstrategie, die vor allem die oft unnötigen Prostatabiopsien reduziert. Mit der MRT scheint es nun möglich, weniger und auch gezielter zu biopsieren. Neue randomisierte Studien zeigten in den letzten Jahren, dass ein „modernes“, PSA+MRT-basiertes Screening zu deutlich weniger Überdiagnosen führt. Auch sieht man heute kaum noch eine Notwendigkeit, wenig aggressive Krebsformen zu finden oder zu therapieren.

Entscheidend ist nun die Frage, wie gut sich die alte Evidenz zum klassischen Screening mit der neuen Evidenz zum modernen Screening verknüpfen lässt: Kann ein modernes Prostatakrebsscreening die Nebenwirkungen sehr deutlich reduzieren, ohne dass relevanter Krebs übersehen wird und so der Mortalitätseffekt verloren geht? Zudem muss der zu erwartende Diagnostikaufwand abgeschätzt und beachtet werden. Wenn die Hälfte der 10 Millionen deutschen Männer im Alter zwischen 50 und 65 am Screening (eine Runde) teilnehmen und etwa 18 % wegen PSA > 3 ng/ml und positiver Folgetests weiter abzuklären sind – so wie in der schwedischen STHLM3-MRI-Studie –, dann ergibt sich ein Bedarf an fast 1 Millionen MRT-Untersuchungen mit Fusionsbiopsie.

„In der Tat hat sich seit dem IQWiG-Bericht von 2020 die Datenlage weiterentwickelt. Vermutlich lohnt sich eine Neubewertung des Prostatakrebsscreenings – jetzt oder in naher Zukunft.“ Prof. Dr. med. Stefan Sauerland, M.san. Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG). Foto: IQWIG